Können wir uns China noch leisten?
Die Wirtschaft ist im Umbruch und grössere Herausforderungen stehen an
Medienmitteilungen über ein moderates Wachstum in China, die Abwertung des Renminbi durch die Notenbank, steigende Lohnkosten, aber auch vermehrtes Rück-Sourcing in die europäische Heimat verunsichern Einkäufer zusehends. Eine Einschätzung der aktuellen Situation.
Noch vor nicht allzu langer Zeit ächzte die Welt über Chinas Rohstoffhunger und die dadurch explodierenden Rohstoffpreise. Hauptsächlich hervorgerufen durch das enorme jährliche Wachstum von über zehn Prozent. Aktuell ächzt die Welt wieder. Dieses Mal unter dem bescheidenen Wachstum von nur noch sieben Prozent und den permanent steigenden Lohnkosten. Entsprechend finden sich vermehrt Berichte, die von einem schwindenden Kostenvorteil Chinas sprechen – und von Unternehmen, die ein Rück-Sourcing in Betracht ziehen oder schon umgesetzt haben.
Weiter liest man von Firmen, die China verlassen haben und in meist südostasiatische Länder weitergezogen sind, um sich den Kostenvorteil weiter zu sichern. Durch die Aufhebung des Euromindestkurses stieg der Druck auf exportierende Unternehmen und die Einkaufsabteilungen drastisch, um der schwindenden Wettbewerbsfähigkeit Paroli bieten zu können.
So überrascht es nicht, dass China weiterhin klar der wichtigste Handelspartner der Schweiz für Importe aus dem asiatischen Raum ist, mit einem Plus von 0,7 Prozent im ersten Halbjahr 2015, gemäss den aktuellen, im Juli von der Eidgenössischen Zollverwaltung veröffentlichten Zahlen. Obwohl sich China in Bezug auf die Höhe des Minimallohns im Vergleich zu anderen asiatischen Ländern mittlerweile in der oberen Tabellenhälfte befindet.
Zunehmende Importe
Die Gründe sind vielseitig. Bei neuen Verlagerungsprojekten nach China sind immer noch respektable Einsparpotenziale zwischen 15 und 30 Prozent zu erzielen. Im Formenbau, beispielsweise bei Kunststoffspritzgiesswerkzeugen, sind Einsparungen von mehr als 30 Prozent durchaus realisierbar. Auch werden über Jahre hinweg etablierte Lieferantenbeziehungen nicht einfach von heute auf morgen aufgegeben. Meist wird nun versucht, die steigenden Kosten abzufedern, sei es mit innovativen technischen Ansätzen, Produktionsoptimierungen oder durch Bündelung von weiteren Produkten hin zu bestehenden Lieferanten, um so vom Volumeneffekt pro tieren zu können.
Innerhalb Asiens die Nummer 1
Über die vergangenen drei Dekaden baute sich China eine ausgereifte Infrastruktur auf. Es wurden und werden ganze Industrieparks aus dem Boden gestampft. Ein gut funktionierendes Strassen- und Schienennetz sowie moderne Flug- und Seehäfen sorgen für einen reibungslosen Versand von Gütern aller Art. Eine Regierung, die bei der Ausarbeitung des nächsten Fünfjahresplans, der ab März 2016 in Kraft treten wird, sicherstellen soll, dass auch zukünftig eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Stabilität im Land gewährleistet wird.
Alles Argumente, die für die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt sprechen. Wichtigster Pluspunkt für Einkäufer ist sicher der Fakt, dass sich die chinesische Industrie über die Jahrzehnte hinweg rasant weiterentwickelte und sich mit westlichen Ansprüchen bezüglich Qualität und Kommunikationsfähigkeit vertraut gemacht hat. Auch sind immer mehr Lieferanten bestrebt, ihre Innovationsfähigkeit zu steigern, um so dem Image eines klassischen «Me-Too-Herstellers» entrinnen zu können und sich hin zu einem One-Stop-Lieferanten zu entwickeln, der sich um sämtliche Beschaffungs-, Produktions- und Logistikprozesse kümmert. Des Weiteren befindet sich die chinesische Zulieferbranche im Umbruch, um der permanenten Kostensteigerung entgegenzuwirken. Es werden vermehrt Produktionsanlagen automatisiert. Das ermöglicht eine Reduktion von Produktionsmitarbeitern bei gleichzeitiger Produktivitäts- und Qualitätssteigerung.
Schlussfolgerung
Einerseits hat die Verlangsamung der Exporte aus China den lokalen Unternehmen verdeutlicht, dass es an der Zeit ist, Massnahmen zu ergreifen, um dem langsam schwindenden Kostenvorteil entgegenzuwirken. Entsprechend werden teilweise gewisse Firmenzweige nach Westchina verlagert, oder es werden ganze Produktionsprozesse automatisiert. Andererseits ist China in Anbetracht des Total-Cost-of-Ownership-Ansatzes, nicht zuletzt aufgrund der jahrelangen Erfahrungen im Exportbusiness und insbesondere für komplexere Produkte und Baugruppen im Vergleich zu anderen südostasiatischen Ländern, nach wie vor ein äusserst attraktiver Beschaffungsmarkt. Deshalb sollte ein Einkaufsprofi das Reich der Mitte bei Sourcing-Projekten weiterhin auf dem Radar haben.
Autor: André Leutenegger
Veröffentlicht: Verein procure.ch
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